Inge Stender – Autorin
Home Autorin Bücher Schublade El Hierro Links Impressum

El Cantor

 

Ich habe mich wie ein Boot gefühlt, auf deinen Worten geschaukelt.

„Felix!“

Ich liege auf dem Bauch, Augen geschlossen, Nase ins Kissen vergraben, dem Duft nachschnüffelnd, dieser unvergleichlichen Mischung aus würzigem Tabak und einem Hauch von Zimt. Jede Pore meiner Haut atmet ihn ein, füllt sich mit ihm, hamstert ihn für schlechte Zeiten.

„Felix?“ Meine Hand tastet blind nach meinem Liebsten, der endlich zu mir zurückgefunden hat, weil meine Duftstoffe ihn gelockt, verführt, benebelt haben, bis er von Sinnen zu mir getaumelt kam und nur noch in mir eintauchen wollte. Meine Hand greift ins Leere. Es ist heller Tag. Staubkörnchen flirren mehrfarbig vor dem offenen Fenster. Der Passat bläht die Vorhänge auf, es ist heiß. Die Dachbalken knacken vernehmlich, als wollten sie sich über die Hitze beschweren. Die Jagdhunde meines Nachbarn heulen, weil sie wieder kein Futter bekommen haben und das Meer brandet in der Ferne gegen die Felsen. Das alles träume ich nicht. Aber mein Geliebter, dessen Duft ich geatmet, dessen Zunge ich geschmeckt, der mir lüsterne Worte ins Ohr geflüstert hat, dass ich noch den Liebestau aus meiner Möse perlen fühle, einer Quelle, die ich lange versiegt glaubte, Felix ist nur ein Traum gewesen.

„Wieder einen traumhaften Morgen verpasst“, hätte er jetzt gesagt, Felix, der Frühaufsteher. „Verschlaf nicht dein Leben, du hast nur eines.“

Unser einziger Streitpunkt. Ich hielt es mehr mit der Lehre Buddhas. Ich glaube, dass uns die Taten unserer früheren Leben im endlosen Kreislauf der Wiedergeburten gefangen halten und bemühe mich mit Übungen der Achtsamkeit zur absoluten Wahrheit zu gelangen. Felix hielt es mit Horaz: Was morgen sein wird, frage nicht. Carpe diem! Beute den Tag aus! Und das hieß, früh aufstehen. Das habe ich ihm zuliebe auch gemacht, Kaffee aufgebrüht und mich mit zwei Tassen und der noch leise brodelnden Cafetera aus Aluminium neben ihn auf die Schwelle der hellblauen Eingangstür gesetzt, meinen Kopf an seine Schulter gelegt, und die Strophen gezählt, die „El Cantor“ in der Morgendämmerung aus seinem sicheren Hibiskusversteck nur für uns inbrünstig schmetterte. „Er singt jeden Morgen für dich, auch wenn ich wieder abgereist bin“, behauptete Felix.

Normalerweise sterben Menschen später als kleine gelbe Vögel. Felix aber fiel aus der Norm. Er war zu meinem Geburtstag gekommen. Es war noch angenehm warm gewesen. Wir sind zusammen in La Maceta, meinem Lieblingscharco, schwimmen gewesen. Dann ist er wieder in seine Heimat geflogen. Im Norden Spaniens waren die Temperaturen über Nacht drastisch gesunken. Regen gefror noch im Fallen zu Eis. Die Straßen waren spiegelglatt. Er hatte nicht damit rechnen können. Fuhr bedenkenlos mit seinen abgefahrenen Sommerreifen. Auch der spanische Wetterbericht sprach von einem zu frühen Wintereinbruch. Ich habe Felix nie wieder gesehen.

Danach hatte ich nie mehr Anlass früh aufzustehn. Schon als Kind schlief ich gerne lang. Ich hasste es, wenn mein Vater mir in den Ferien die Bettdecke wegriss und uns mit seiner dröhnenden Stimme zur Arbeit antrieb: „Früher Vogel fängt den Wurm!“

Aber damals in der schlechten Zeit gab es für jedes Familienmitglied viel zu tun. Heute sieht das anders aus. Lebe seit Jahren zurückgezogen auf der kleinsten Kanareninsel El Hierro. Schrieb Kolumnen und Kurzgeschichten für ein Frauenmagazin. Aus dem letzten Satz, den ich schrieb, als Felix abgefahren war, ist bis heute keine Geschichte mehr erwachsen. Der Satz ist unwiderruflich Vergangenheit. Trotz des Perfekts hat er keinen Bezug mehr zur Gegenwart. Wie sollte ich ihn mit Leben füllen, wenn ich keine Worte mehr höre, auf denen ich mich zufrieden schaukeln könnte? Für was lohnt es sich früh aufzustehen, wenn kein Felix da ist, der mir das Leben erklärt. Dem ich geglaubt habe, dass es einen Sinn gibt, dass es sich zu leben lohnt.

Ich habe mich wie ein Boot gefühlt, auf deinen Worten geschaukelt.

Glück lässt sich nicht festhalten. Aber das habe ich nicht gemacht. Ich habe dich immer wieder gehen lassen, weil ich wusste, dass du wiederkommst. Mein Geliebter. Dann bist du einfach davongeflogen und nicht mehr zurückgekehrt. Jetzt ist das Boot kurz vor seinem Kentern. Es hat seine Richtung verloren, als du durch den Unfall bei Glatteis dein Leben verlorst. Ich habe es nicht glauben wollen. Du warst zehn Jahre jünger als ich, in der Blüte deiner Jahre. Das war nicht gerecht. Damals habe ich endgültig den letzten Faden durchgeschnitten, mit dem ich noch am christlichen Gottesglauben hing.

Morgen werde ich mein Testament machen. Haus und Finca sollen an eine Stiftung für junge Schreibtalente gehen, auf meiner Grabplatte soll der Satz stehen, der mich für immer mit dir verbindet: Ich habe mich wie ein Boot gefühlt, auf deinen Worten geschaukelt.

Vielleicht schreibt jemand mal die unvollendet gebliebene Geschichte zuende.

Ich bin froh, endlich diesen klarsichtigen Entschluss gefasst zu haben. Kein Anhaften mehr. Aber auch kein Duft nach Tabak und Zimt, den meine Sinne offenbar gespeichert haben. Wie ist das nur möglich? Ich glaube sogar, deine Stimme zu hören: „Cariño, wirf dein Leben nicht weg!“

Du sprachst schon nach wenigen Jahren akzentfrei Deutsch. „Wirf dein Leben nicht weg, du hast nur eines, oder du wirst mich für immer verlieren.“

„Aber, ich habe dich zu lange schon verloren!!!“, schreit es aus mir und Tränen ersticken jeden weiteren Schrei.

Ich schaue auf das Display meines Telefons. Dem Datum nach habe ich morgen Geburtstag, mein sechzigster, ein runder, den wir immer geadelt haben. War Felix mir deswegen erschienen? Vielleicht aus einer Welt, in der Körper nicht mehr existieren? Felix bedeutet der Glückliche, und Nomen est Omen. Er hatte bestimmt eine bessere Wiedergeburt erfahren, als mir bevorsteht. War vielleicht schon reines Geistwesen, noch nicht endgültig erlöst, aber der Welt der Sinnesfreuden, respektive –leiden entronnen? Auch wenn er selber nie daran glaubte. Aber die Wahrheit hängt nicht vom Glauben ab.

Plötzlich ahne ich, dass ich ihn nie wirklich verloren habe. Solange ich in diesem vergänglichen Körper lebe, habe ich Empfindungen, erinnere ich mich an ihn, leide ich. Ich schiebe den imaginären Witwenschleier zur Seite, glaube, sein Lachen zu hören: „Du ungläubiger Thomas du! Cariño, vertrau mir einfach!“

„Bueno!“, höre ich mich sagen. Mein Herz beginnt wild zu klopfen, wie bei einem jungen Mädchen vor seinem ersten Date. „Wenn mich morgen ,El Cantor‘ mit einem Geburtstagsständchen weckt, werde ich von Stund an früh aufstehen. Den Garten, den du so geliebt hast, neu bepflanzen, die Weinstöcke beschneiden, das mannshohe Unkraut beseitigen, die zerfallenen Mauern richten, die Fensterläden neu streichen. Und vielleicht, nur vielleicht schreibe ich die ungeschriebene Geschichte unserer Liebe.“

Ich erhebe mich langsam von meinem zerwühlten Lager, stapfe bis hinter das Haus und werfe den Generator an. Registriere missbilligend den Wildwuchs der Zitrusbäume und Palmen, teile mit der Hand das Unkrautmeer, wie weiland Mose das Rote Meer.

Morgen, denke ich. Morgen werden wir sehen.

Am Morgen werde ich wach. Schnüffele Zimtgeruch mit einem feinen Hauch von Virginia-Shag. Es ist die Blaue Stunde. Die Stunde zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Tod und Leben. Wenn für vielleicht dreißig Sekunden die Welt in überirdisch blaues Licht getaucht ist. Das hat Felix mich gelehrt. Ich renne zum Fenster, stoße beide Flügel auf, schaue in Augenhöhe in die glänzenden Stecknadelkopf-Augen von „El Cantor“, der im Hibiskus wippt und schmettert, trillert, jubiliert, bis der Ast so sehr schaukelt, dass die geöffnete rote Blüte an seinem Ende sich vom Stengel löst und mir direkt vor die Füße fällt. Mein Geburtstagsständchen und ein Blumengeschenk!

Endlich erkenne ich, warum ich mir damals El Hierro wirklich als Altersruhesitz ausgesucht habe. Nicht wegen der Sonne, die mein Rheuma erträglicher macht. Weil es hier noch Magie gibt.

Ich fühle mich wie ein Boot, schaukele mich auf deinen Gesängen.

nach oben zur Übersicht