Inge Stender – Autorin
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Aus der Schule geplaudert:

 

Schule des Lebens

 

„Schicksal oder Zufall? Wie lautet die Antwort im antiken Drama? Denken Sie an Ödipus!“

Die Lehrerin schaut beunruhigt in die arrogant verschlossenen Gesichter ihrer Schüler.

Mit schier endloser Geduld hebt sie zum dritten Mal an, den Unterschied zum modernen Drama aus ihnen herauszulocken: „Teilt Dürrenmatt die Sichtweise des Sophokles oder nicht?“

Das hartnäckige Schweigen ihrer Schüler wird vom Pausengong unterbrochen, und alle verlassen den Klassenraum in überstürzter Entschlossenheit, als wollten sie nie wieder zurückkehren.

Zurück bleibt die Lehrerin, ratlos.

Eine Generation geht. Eine andere kommt. Die Erde steht in Ewigkeit.

Die Lehrerin aber verliert unmerklich den Boden unter ihren Füßen.

Sie muss sich beeilen.

Sie strafft unbewusst ihre Schultern, belädt sie mit ihrer schweren Büchertasche. Sie trägt schwerer an einer unsichtbaren Bürde.

Die Sonne, die aufging und wieder unterging, atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht.

Sie hat den Schulvormittag überstanden, aber noch nicht den Schwindelanfall, der sie jählings, kaum zuhause angekommen, trifft. Verwirrt, geängstigt und hilflos fühlt sie sich. Da treffen sie die zornigen Worte ihres Mannes genauso überfallartig wie zuvor der Schwächeanfall. Sie traut sich nicht mehr, die Beine hochzulegen. Sie starrt beschämt zu Boden, damit er nicht in ihrem Gesicht lesen kann.

Wenn er sie schon nicht zu trösten vermag, warum lässt er sie nicht einfach in Ruhe, bis sie sich besser fühlt, der Situation mehr gewachsen?

„Schau dich doch mal an! Ein Schatten deiner selbst! Mich kotzt es an, mit einem geschlechtslosen Arbeitszombie verheiratet zu sein! Mich interessiert nicht mehr, ob deine Schüler ihr verdammtes Abitur schaffen! Diese verzogenen Bälger. Hörst du mir überhaupt zu???? Ich meine es ernst. Mach einen Yoga-Kurs, oder sonst etwas! Mir reicht es!“

Er lässt ihr keine Chance für eine Erwiderung, würdigt sie keines zweiten Blickes, verlässt türknallend das Wohnzimmer.

Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Aus der violetten Tiefe ihrer kurzen Bewusstlosigkeit spürt sie, wie ein tiefer Widerstand die glatte Oberfläche ihres Denkens schmerzhaft kräuselt.

Was sie auch tut, es ist nie gut genug.

Sie ist zum Scheitern verurteilt, zur Freiheit verdammt.

Ihr Verstand verheddert sich und produziert ein neues Kräuselmuster an Gedanken. Wieso scheitern plötzlich auch ihre Schüler?

Bei einer außerordentlichen Abiturkonferenz erfährt sie, dass sie derzeit den schlechtesten Abiturjahrgang seit Bestehen des Gymnasiums unterrichten. Der Jahrgangsleiter macht sich Sorgen um das Niveau der Schule.

Er bringt ein Beispiel: „Ich habe die gleiche Arbeit zum zweiten Mal schreiben lassen und immer noch über fünfzig Prozent mangelhafte Leistungen. Was soll ich mit dem Schrott anfangen?“

Da traut sich auch die Deutschlehrerin ihr Problem zu schildern.

„Das einzige, was meine Schüler für eine Deutschprüfung mitbringen, ist, dass sie deutsch sprechen. Rechtschreibkenntnisse gleich null. Literatur interessiert sie so wenig wie den Eisbär heiße Quellen. Es macht mich fertig.“

Kaum sind ihr diese wenigen Worte entschlüpft, hat sie das dumpfe Gefühl, sie hätte ihre Schüler böswillig verleumdet.

Eine hitzige Debatte über die Null-Bock-Generation beginnt, die das Wort Leistung für ein Fremdwort hält.

Die Deutschlehrerin hat ungewollt eine Lawine losgetreten, die sich bedrohlich auf sie selbst zurückbewegt, sie zu überrollen droht, aber es sind wohl nur ihre überreizten Nerven, die das Gefühl von Panik in ihr auslösen.

Sekundenlang stockt ihr der Atem, als sie hört, wie ihre Biologiekollegin eine beschwichtigende Feststellung trifft: „Selbst beim Wein gibt es immer mal einen schlechten Jahrgang, trotz bester Lage.“

Der Einwand wird von allen belächelt. Sie steht kurz vor der Pensionierung und genießt Narrenfreiheit.

Nur die Deutschlehrerin stimmt ihrer Kollegin insgeheim zu, aber sie lässt sich in ihrer eigenen Verunsicherung vom breiten Strom der Mehrheit mittragen, ihre Selbstzweifel in ein Meer ungezählter Tränen fortschwemmen, die sie brennend aufsteigen fühlt.

Rotglühend scheint sich die Erde unter ihr zu öffnen. Einer Ohnmacht nahe schraubt sich eine Erkenntnis in ihr Bewusstsein: Sie wird die schlechten Leistungen ihrer Schüler genau so wenig beeinflussen können wie der Weingärtner die Süße seiner Trauben. Es ist kein Sinn im menschlichen Tun.

Windhauch. Das ist alles Windhauch.

Wochen später bestehen wider Erwarten alle Schüler ihr Abitur.

„Ihre Reife muss im Zeitraffer abgelaufen sein“, bemerkt der Jahrgangsleiter spitz in seiner Abschlussrede.

Die Aulabühne wird plötzlich zur Bühne des Lebens, als die Abiturienten ein Spruchband entrollen, auf dem schwarz auf weiß zu lesen steht:

ES GIBT EIN LEBEN NACH DEM ABI!

Die Biologielehrerin denkt an ihre Deutschkollegin, die eigentlich auch hier sein sollte.

Sie sei mitten im Abitur ernsthaft erkrankt. Niemand wisse, wann sie wiederkommt.

Die habe das Handtuch geworfen, behaupten ihre Schüler. Aber was geht es sie noch an?

Niemand in der Schule ahnt, dass die Deutschlehrerin nur die Anstalt gewechselt hat, in einer nahegelegenen Nervenklinik lebt. Nicht in der geschlossenen Abteilung. Sie muss nicht vor sich oder andere vor ihr geschützt werden. Sie könnte ihr Zimmer verlassen wie früher ihr Klassenzimmer. Sie könnte über die Flure hetzen, als hätte sie einen Stundenplan einzuhalten. Genau besehen ist sie frei, zu tun, was ihr gefällt. Sie gilt als harmlose Spinnerin, weil sie behauptet, das Buch der Bücher studieren zu müssen.

Ihr Mann versteht nicht, warum ihr Geist plötzlich eine Grenze überschritt, wohin er ihr nicht folgen kann. Wundert sich über das versonnene Lächeln, das auf ihrem Gesicht liegt wie eine zweite Haut, im Schoß Großmutters Familienbibel.

Natürlich macht er sich Sorgen, wenn sie von sich als Frau Weisheit spricht, oder ungezählte Briefe an sämtliche Staatsoberhäupter der Welt ebenso unterzeichnet.

Ringt um seine Fassung, wenn er das Briefbündel auf dem Nachhauseweg in einem öffentlichen Papierkorb entsorgt.

Was soll nur werden, wenn sie so alt wird wie ihre Großmutter?

In der Klinik scheint sich niemand Sorgen zu machen. Die Mitpatienten hören ihr gerne zu, versichert der behandelnde Arzt, als wäre das ein Zeichen von Heilung, wenn sie ihnen hin und wieder aus der Bibel zitiert:

Wiederum habe ich unter der Sonne beobachtet: Nicht den Schnellen gehört im Wettlauf der Sieg, nicht den Tapferen der Sieg im Kampf, auch nicht den Klugen der Reichtum, auch nicht den Könnern der Beifall, sondern jeden treffen Zufall und Zeit.

 

Zitate aus: Die Bibel, Einheitsübersetzung Herder, 1980, das Buch Kohelet, S. 720 ff

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