Die grüne Couch
„Ihre Müdigkeit ist also nicht organisch bedingt.“ Der Therapeut beobachtete seine neue Patientin aufmerksam. „Ich bin nicht krank, wenn Sie das meinen! Mein Mann müsste sich nur ein bisschen um mich kümmern, nach allem, was ich für ihn getan habe. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch, der etwas Liebe braucht. Oder ist Liebe nur für hilflose Babys und Kinder reserviert?“ Die Stimme der Frau war schärfer geworden. Der aggressive Ton passte nicht zu ihrer koketten Körpersprache, die sie trotz einer unübersehbaren Leibesfülle wie ein sinnliches Alphabet beherrschte und - da war er sich sicher - auch gezielt bei Männern einzusetzen wusste. Sie hätte Goya als Modell für Die nackte Maja hervorragende Dienste geleistet. Das Portrait wäre wahrscheinlich noch herausfordernder ausgefallen und hätte beim Betrachter eine nicht mehr auszuhaltende knisternde erotische Spannung ausgelöst. Die Kleinmädchenstimme, die plötzlich an sein Ohr drang, zerstörte die sexuell aufgeladene Stimmung im Raum, die dem Therapeuten schon leichte Magenschmerzen bereitet hatte. „Früher hat sich Paps um mich gekümmert, wenn ich unglücklich war. Mutter nie, die kam nur mit dem Fieberthermometer gerannt, wenn ich mich ins Bett verkrochen hatte. Dabei war ich nicht krank, höchstens vor Enttäuschung, weil sie mich wieder mal ungerecht behandelt hatte. Aber mein Paps hat das bemerkt und mir am nächsten Abend einen Marienkäfer aus Schokolade mit gebracht, der ganz echt aussah mit schwarzen Füßchen und Pünktchen auf roten Flügeln. Den habe ich auf mein Kopfkissen gesetzt und gehofft, dass er mit mir in der Nacht davonfliegen werde. Aber als Mutter mich wecken kommt, ist er zerquetscht und das Kopfkissen fürchterlich verschmiert. Sie rennt laut schimpfend aus dem Zimmer. Ich höre sie mit Paps zetern, du bist so dumm wie du lang bist, du machst mir nur zusätzliche Arbeit, schlimmer als ein Kind, werd doch endlich mal erwachsen, das halte ich nicht länger aus mit dir! Und Paps ist lange nicht zum Gutenachtsagen gekommen.“ Die Frau wechselte ihre Stellung und drehte sich zur Wand, als hätte sie gesagt, was zu sagen war. „Und heute lässt Ihr Mann Sie allein, wenn Sie ihn brauchen?“ „Sie sagen es! Schließlich habe ich doch alles für ihn getan.“ Triumph mit einer Spur von Larmoyanz hörte er jetzt aus ihrer Stimme heraus, die wie ein Barometer den Druck anzeigte, der in ihr herrschte. Das könnte eine langwierige Analyse werden. Ein typischer Fall von Ödipus. Schwierig in ihrem Alter, wenn noch schwere Depressionen hinzukamen. „Dann erzählen Sie doch mal!“ Sie ließ es sich nicht zweimal sagen, sprudelte los wie ein brodelnder Wasserkessel. „Ich habe für ihn mein Studium aufgegeben, ihm den Haushalt geführt, seine Kleidung in Ordnung gehalten, damals hatten wir schließlich noch nicht viel Geld, um uns neue zu leisten. Ohne mich hätte er niemals seine Karriere als Internist in nur fünf Jahren geschafft. Habe auf Urlaub verzichtet, damit er Fortbildungskurse besuchen konnte. Ich wäre gerne Kinderärztin geworden, aber Wölfi meinte, ein Arzt in der Familie reichte. Ich sollte mich lieber um unsere eigenen Kinder kümmern, die dann auch schnell kamen. Ich wollte auch eine eigene Familie haben. Ich war eine gute Mutter. Das haben alle gesagt, auch Wölfi. Die Schulprobleme unserer Tochter habe ich ihm vom Halse gehalten, weil er immer so überarbeitet war, wenn er aus dem Krankenhaus überhaupt mal nach Hause kam. Dann fing der Junge an, herumzumotzen. Nichts konnte man ihm recht machen. Wölfi verlor immer gleich die Nerven, wenn er die Maulerei mitbekam. Ich habe die Erziehung der Kinder ganz alleine...“ Der Therapeut unterbrach ihre Tirade. „Wo genau, glauben Sie, liegen heute Ihre Probleme? Ihre Kinder sind doch längst aus dem Haus.“ „Das haben Sie noch nicht begriffen?“ Ruckartig reckte die Frau sich hoch und drehte den Kopf in seine Richtung, um Blickkontakt herzustellen, wobei ihre Bluse verrutschte und der Busen ihr fast aus dem tiefen Ausschnitt quoll. Dieses Mal garantiert absichtslos. Der Therapeut schrieb ihre Reaktion dem Zorn zu, der ihre Stimme hatte anschwellen lassen. Das war keine Verführungsszene. Die Frau funkelte ihn angriffslustig an. „Mein Mann will noch mal neu anfangen, jetzt, wo er sogar Klinikchef geworden ist. Behauptet einfach, er liebe mich nicht mehr. Als ob man langjährige Liebe einfach ausknipsen kann wie eine Nachttischlampe.“ „Nun, Beziehungen ändern sich im Laufe der Jahre.“ Der Therapeut raschelte sich in seinem alten Sessel zurecht. „Da haben Sie recht, Herr Doktor! Sach ich zu meinem Mann auch immer. Wir sind schließlich keine zwanzig mehr. Wir hatten unser Späßken. Ha,ha. Nur die Liebe, zählt!“ „Liebe ist nur ein Wort.“ Der Therapeut hielt eine kleine Provokation für angebracht. „Da habense recht, Herr Doktor! Hörma, sach ich zu meinem Mann, hörma, is doch nich so schwer, einmal zu sagen, Ich liebe dich! Oder wat meinen Sie?“ Die Frau war dermaßen verstrickt in ihren Liebeshunger, dass sie weder bemerkte, wie sie in ihren mühsam abtrainierten Ruhrpottslang verfiel, noch, wie der Therapeut leicht angewidert einen Mundwinkel verzog, um sie schnell wieder teilnahmsvoll anzublicken, da sie ihm, hoch aufgerichtet und Zustimmung heischend, direkt ins Gesicht schaute. Da warf sie ihre Beine schwungvoll herum, bis ihre zierlichen Stiefeletten nebeneinander auf dem Boden standen, stand auf, streckte dem Therapeuten artig eine Hand entgegen in der unmissverständlichen Absicht sich zu verabschieden. Sie hatte offenbar gehört, was sie hören wollte, obwohl er überhaupt nichts gesagt hatte. Die Zeit für die erste Sitzung war keineswegs zuende. Der Therapeut erhob sich zwangsläufig, verblüfft über die Wendung, ergriff die unübersehbar ausgestreckte Hand seiner vermeintlich künftigen Patientin und wollte einen neuen Termin vereinbaren, als diese ihm mit den Worten zuvorkam: „Herr Doktor, was für ein Glück, dass Sie mich gleich verstanden haben!“ Mit einem abschätzigen Blick auf die Couch, ein deutlich älteres Modell von Chaiselongue, auf der sie vielleicht gerade mal zehn Minuten gelegen hatte, informierte sie ihn, dass sie keine weitere Therapie mehr benötigte. „Ihre Couch werde ich nicht länger in Anspruch nehmen müssen. Sie haben mir schon weitergeholfen!“ Mit diesen Worten walzte sie in ihrer sinnlichen Körperfülle aus der Praxis, ohne zu ahnen, dass der gestandene Therapeut tatsächlich platt war. Zum Glück hörte er nicht, was die Dame, die sich auch sprachlich wieder in die Arztgattin verwandelt hatte, beim Verlassen seiner Praxis vor sich hin murmelte. „Wenn ich mich auf eine Couch lege, dann auf meine eigene. Wie komme ich dazu, mich für teures Geld auf ein derartig schäbiges Wrack zu legen? Am Ende hocken da noch die Milben drin.“ Sie hielt ein Taxi an, zufrieden mit sich und der Welt, denn sie fühlte sich nach diesem kurzen Gespräch bestärkt in dem Glauben, dass ihre Ehe noch zu retten sei. Dazu hätte sie keinen Therapeuten gebraucht. Aber sie wollte Wölfi den Gefallen tun, obwohl sie gewusst hatte, dass es eine seiner Schnapsideen gewesen war. Sie schlang den Pelzkragen enger um ihren Hals. Sie würde ihn schon dazu bringen, zu sagen, dass er sie immer noch liebte. Auch wenn es zuerst nur ein Lippenbekenntnis wäre. Das hatte immerhin auch der Psychoquacksalber bemerkt, Liebe ist nur ein Wort. Aber so blöd war sie nun auch nicht, dass sie nicht wusste, dass Wölfi immer nur Sex von ihr gewollt hatte. Wie oft hatte er sie früher einfach genommen, ohne Rücksicht auf die Nachbarn, wenn er sie mit praller Hose vor sich her ins Haus schob, weil er sie auf der Terrasse oben ohne erblickt hatte. Er war der ständig brünstige Platzhirsch gewesen. Von der Rolle wollte er auch im Alter nicht lassen. Sie war nicht prüde. Ihr Busen hatte sich immer sehen lassen können. Wölfi war regelrecht fixiert auf ihn. Was konnte sie dafür, dass er inzwischen nicht mehr auffordernd wippte. Aber ihr Hängebusen war nicht schuld daran, dass auch sein Prachtstück zunehmend an Standfestigkeit verlor. Ein liebevolles Vorspiel bei Kerzenlicht könnte für Abhilfe sorgen. Aber dafür mangelte es ihm an Geduld. Warum griff er nicht zu Viagra, wenn er seine alte Form unbedingt unter Beweis stellen musste? Schließlich kannte er sich als Arzt damit aus. Bei einer jüngeren Frau wäre sein Potenzproblem auch nicht behoben. Zu Hause angekommen plumpste sie mit der neuerdings täglichen Mattigkeit auf ihre Wohnzimmercouch, ein Designerstück in mintgrün, aber anders als sonst bei derart teuren Sitzmöbeln angenehm bequem. Ihren Pelz zog sie gar nicht erst aus, nur ihre zierlichen Stiefeletten. Sie hatte immer noch makellos kleine Füße, keine eingewachsenen Nägel und schlanke Fesseln. Ein Fußfetischist hätte noch seine Freude an ihnen gehabt. Zu dumm, dass sie an einen Busenfetischisten geraten war! Aber sie würde sich jetzt nicht hängen lassen, nur weil ihr Busen hing. Alles aufgeben, wofür sie ein Leben lang gekämpft hatte, kam gar nicht in Frage. Sie hatte den Bottroper Mief lange hinter sich gelassen und nicht vor, ihn auch nur von weitem zu riechen. Er konnte jetzt nicht plötzlich die Scheidung verlangen wegen dieser Klinikmaus. Nur über ihre Leiche! Sie war die Frau des Chefarztes und würde es auch bleiben. Punktum. Sie ließ sich nicht wegwerfen wie ein gebrauchtes Handtuch, und er nahm sich ein neues her. Sie ließ sich auch nicht länger zum Sündenbock machen. Ihr Busen war nicht Schuld an seinen Potenzstörungen. Aber hatte er ihr nicht immer für all seine Probleme die Schuld in die Schuhe geschoben? Schon bei ihrem ersten gemeinsamen Skiurlaub, als er die Schlüssel für die Hütte verlor und sie dafür verantwortlich machte. Sein Schlüsselproblem hatte sich im Laufe ihrer Ehe nie geändert, bis sie die Schlüssel in Verwahrsam nahm. Oder was hatte der Mann für ein Theater gemacht, als er beim Brötchenkauen eine Zahnplombe verschluckte, als hätte sie absichtlich harte Brötchen gekauft, damit er sich die Zähne daran ausbeißt. Schade eigentlich, dass sie ihm nicht schon damals mehr zu beißen gegeben hatte als harte Brötchen. Aber endlich hatte sie begriffen, dass sie sich wehren musste. Erst gestern hatte sie ihm gedroht, als er ihr den Termin beim Psychiater aufgezwungen hatte, als litte sie an Depressionen. Dass sie nicht lachte! Aber sie hatte sich pro Forma seinem Willen unterworfen und sich geschworen, dass es das letzte Mal sein würde. Wenn er noch ein einziges Mal von Scheidung sprechen würde, würde sie ihn auffliegen lassen, seine jahrelange Bestechlichkeit publik machen. Sicher, sie hatte ihn dazu gedrängt, die hohen Provisionen von dem Pharmakonzern anzunehmen, um ein paar Medikamente in der Klinik auszuprobieren. Sonst wären sie doch nie zu was gekommen. Sie konnte schließlich nicht voraussehen, dass zwei Patienten das nicht überleben würden. Da muss man bei Herzgeschichten doch immer mit rechnen, als Arzt. Es schöpfte auch niemand Verdacht. Wölfi hatte das Medikament natürlich nie mehr verwendet. Wo er es wohl gelassen hatte? Er konnte doch nie etwas wegwerfen. Sie müsste mal in seinem Giftschrank nachsehen, der Name würde ihr bestimmt wieder einfallen, wenn sie ihn gedruckt sähe. Wie ungeheuer praktisch wäre es, wenn sie einen echten Beweis gegen ihn in der Hand hätte. Den Schlüssel für den Schrank verlegte er ständig. Sie besaß längst ein Duplikat. Sie würde nachschauen, aber nicht sofort, es eilte nicht. Erst einmal richtig ausruhen, sich einen kleinen Stärkungstrunk genehmigen. Ja, der würde ihr gut tun. Sie griff zu der Karaffe mit ihrem Lieblingslikör auf dem chromglänzenden Beistelltisch. Es konnte nichts mehr schief gehen. Der liebe Wölfi, er hatte sogar die Karaffe wieder aufgefüllt. Sie hatte ihm die Flausen schon ausgetrieben. Eine einzige Drohung hatte genügt. Entschuldigen würde er sich natürlich nicht für seine Entgleisung. Er war kein Mann großer Worte, ließ lieber Taten sprechen. Wenn sie nicht so müde wäre, würde sie sich für ihn ein wenig hübsch machen. Sie hob das Glas an den Mund. Vorsicht, dass sie nichts auf die gute Couch verschüttete, besser das klebrige Zeug in einem Zug runterkippen! Das tat höllisch gut! Nur, woher kam plötzlich die stechende Hitze? Eben hatte sie noch gefroren. Es war doch Winter. Sie musste Wölfi an den Skiurlaub erin... Nein, sie hatte die Schlüssel. Nicht so schlimm... alles wieder gut. „Mein Beileid, alter Freund.“ Der Therapeut drückte seinem ehemaligen Studienkollegen lange die Hand. „Sie hat unsere Hilfe nicht annehmen wollen. Da sind auch wir mit unserem Latein am Ende. Tragisch.“ Beide schaufelten nacheinander Erde ins Grab. „Mehr konnten Sie wirklich nicht tun, als ihre Frau in die Hände eines so anerkannten Psychotherapeuten zu geben, Herr Doktor. Woher sollten Sie ahnen, dass sie einen Zweitschlüssel zu Ihrem Medikamentenschrank besaß? Selbstmorde werden oft von langer Hand vorbereitet.“ Der Kommissar war dem Chefarzt ewig dankbar, dass er sich persönlich um seine Herzkranzgefäße gekümmert hatte und die Kosten unter der Schmerzgrenze geblieben waren. |
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